Das Jahr geht langsam dem Ende zu.
Ich sehe mich auf einer Brücke stehen, der Wind saust mir um die Ohren, aber die Brücke steht sicher, das überqueren ist nicht schwer. Also lauf ich los, doch irgendwann verändert sich der Wind. Aus einem kleinen Sturm ist ein Orkan geworden und ich fühle wie sich die Brücke bewegt, wie sie anfängt nach allen Seiten auszuschlagen und ich höre wie die Verankerungen quietschen und sich gegen diese Bewegung wehren. Ich halte mich mit beiden Händen fest und mein Blick geht zurück.
Erinnerungen tauchen auf, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre. Wenn ich zurück gehe ist der Weg genauso beschwerlich wie wenn ich nach vorne gehe. Nur das was war, das kenne ich, das was sein wird, ist für mich der unbekannte Fleck.
Ich bin mein Leben lang fasziniert von dieser Brücke, die mich vorwärts treibt, die mich schwanken lässt, die mich offen für das Unbekannte macht, die mich zurück blicken lässt auf eine Zeit die ich passiert habe. Bis dahin hab ich es geschafft, den Rest werde ich auch noch schaffen.
Ich hatte noch nie das Bedürfnis zurück zu gehen, wieder zurück zu das was ich kannte, was mir Vertraut war. Was mir schmerz bereitet hat.
Wenn ich eines im Buddhismus gelernt habe, dann das Leid wirklich allgegenwärtig ist. Keine Zeit ohne Leid, keine Erinnerung ohne Leid, keine Gegenwart ohne Leid und so auch keine Zukunft ohne Leid. Leid ist immer da, davon hat jeder Mensch genauso viel zur Verfügung wie vom Glück.
Doch während das Glück wie eine Feder über unseren Kopfen weht, müssen wir schwer am Leid tragen.
So ist es auch einfacher sich zu erinnern wie sehr man gelitten hat als sich zu erinnern wie glücklich man war.
Die Feder über unseren Köpfen symbolisiert die Freiheit, im Leid war noch nie jemand frei. Und wirklich frei kann man sich erst ohne Leid fühlen.
Ich möchte die Feder gerne fassen und mich von ihr in die Lüfte treiben lassen. Den Wind und die Gezeiten fühlen dort oben, wo mir das Schwanken der Brücke nichts anhaben kann.
In den letzten zwei Jahren hat meine Brücke so sehr geschwankt das ich manchmal dachte gleich bricht sie zusammen und ich gehe mit ihr unter. Aber die Jahre haben mir gezeigt wie viel sie ertragen kann, das leise Quietschen der Verankerungen ist nichts gegen das Zerren und Reißen der Taue die vorher die Brücke hielten.
Ich hab so vieles erlebt, manchmal denke ich, ich bin ein alternder Soldat der den Blick zurück zum Schlachtfeld schweifen lässt und dann ohne seine Kameraden los läuft... immer weiter und weiter. Die Zerstörung ganzer Leben liegt hinter ihm.
In den letzten zwei Jahren wurde ich zu Andarnil, einer Schülerin des Lebens. Kein Lehrer kann mir das beibringen was diese Brücke bislang erreicht hat. Ich lerne das Leben von allen Seiten kennen.
Es gibt Tage da denke ich darüber nach, warum das so ist, wieso musste ich all das erfahren um es zu verstehen. Die Antwort ist in mir.
Der Weg des Bodhisattva lehrt das es notwendig ist, die Dinge zu erfahren um sie aufzulösen. Man kann nur wirklich verstehen, wenn man es verinnerlicht hat, wenn man mitten im Geschehen ist. Der Sturm wird immer vor einem stehen bleiben, wenn man ihn nicht am eigenen Leib erlebt hat.
Menschen urteilen gerne über Dinge die sie nicht kennen, von denen sie aber überzeugt sind, genug Wissen angebaut zu haben, um darüber reden zu können.
In Wahrheit ist das Wissen um die Dinge die man nicht kennt, nur eine Illusion, eine Phantasie.
Wer über Schokolade reden will, muss wissen wie Schokolade aussieht und wie sie schmeckt.
Das ist die erste Lektion die ich lernen musste. Um über etwas zu sprechen, musste ich es erlebt haben. Um zu wissen wie Leid sich anfühlt, muss ich Leid erlebt haben. Um zu wissen wie sich Glück anfühlt, muss ich Glück erlebt haben.
Meine Brücke wird immer wieder schwanken und wieder zur Ruhe kommen und sich wieder im Sturm des Lebens bewegen, bis ich das Ende erreicht habe und dieses Leben verlassen darf.
Für mich ist die Brücke nichts was mich sorgt, oder mir Angst macht. Sie gehört einfach zu meinem Leben dazu. Der Sturm zeigt mir, dass ich noch bereit bin, für die Lebendigkeit des Seins. Mit allen Höhen und Tiefen, mit all dem Schmerz und all dem Glück.
Das Jahr geht seinem Ende zu. Ein neues Jahr mit neuen Abenteuern steht bereits in den Startlöchern. Vieles ist bereits vorgegeben, aus alten Karma Erkenntnissen gesponnen. Diese Dinge können wir nicht kontrollieren, es wird geschehen was geschehen muss, unabhängig ob es uns gefällt oder nicht. Die Brücke wird wieder schwanken und die Gischt wird hoch schlagen, die Feder wird über meinem Kopf kreisen wie ein Adler über seinem Nest.
Das Leben wird mir weitere Erkenntnisse schenken und ich werde weinen und lachen.
Oft denke ich - "Ach was für ein scheiß Jahr!" und ich hoffe - "Möge uns das nächste Jahr schöner in Erinnerung bleiben"
Egal wie das Jahr war und die das nächste wird, ich kann es nicht ändern, nicht beeinflussen, nichts tun, um die Jahre die vergangen sind aus meiner Erinnerung zu streichen und nichts tun um mich auf der Feder über meinem Kopf in die Lüfte zu schwingen, auf dass ich nur Glück erfahren möge.
Die Feder ist frei und der Wind weht sie über unseren Köpfen und die Brücke schwankt dazu zu einer Melodie.
Und so lerne ich mal wieder ein neues Lied in einer neuen Sprache, auf das ich dazu singen werde...
In diesem Sinne
lasst uns zum Leben singen, dass lässt die Feder noch freier über unseren Köpfen schweben.
Leid vergeht.
Namasté
Eure Andarnil
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